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Titel
Achmetaga. Ein Patrizierleben zwischen Griechenland und Bern


Autor(en)
Lüscher, Geneviève
Erschienen
Bern 2018: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
von
Brigit Stalder

Die Emigration aus der Schweiz ins Ausland zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert ist gut erforscht. Bekannt sind vornehmlich die Geschichten von mittellosen Familien, welche ihre Heimat verliessen, um andernorts ein Auskommen zu suchen. Geneviève Lüscher aber schildert in ihrem «Dokuroman» – wie sie ihr Genre selber nennt – die Auswanderung des Patrizierpaars Charles Müller und Emma von Fellenberg nach Euböa, auf die grösste griechische Insel östlich von Athen. Dort bauten sie zwischen 1833 und 1866 ihren Gutshof Achmetaga auf. Zum grossen Landwirtschaftsbetrieb gehörte ein Dorf, in dem die vielen Angestellten wohnten.

Emma von Fellenberg (1811–1892) war die Tochter des Gründers und langjährigen Direktors der Bildungsanstalten Hofwil (damals «Hofwyl» geschrieben), Emanuel von Fellenberg (1771–1844). Der Patrizier und strenge Patriarch war erfüllt von den neuen pädagogischen Ideen einer umfassenden Bildung, die auch Kenntnisse über die Natur und die Landwirtschaft beinhaltete. Die Bildungsanstalten Hofwil waren sein Lebenswerk.

Der Patrizier Charles Müller (1810–1884) war als Sohn eines Offiziers der englisch­ostindischen Kompanie in Kalkutta geboren worden und besuchte nach einem Aufenthalt in England in Hofwil die Schule. Dort gehörte er zum engen Kreis der Familie und lernte die Töchter von Fellenberg kennen. Später heiratete er Emma und nahm sie nach Achmetaga mit.

Laut Lüscher folgte Charles in seinem Abenteuer philhellenistischen Gefühlen, die in Schweizer Patrizierfamilien ab den 1820er­Jahren verbreitet waren. Philhellenismus bezeichnete die Begeisterung für die antike Kultur und gleichzeitig für das neue Griechenland, das sich in einer revolutionären Bewegung 1830 von der osmanischen Herrschaft befreite. Doch zerstritten sich die Revolutionäre bald. Die europäischen Grossmächte sahen ihre Interessen bedroht und bestimmten für Griechenland einen Monarchen. Der nach einer Übergangsregierung eingesetzte König Otto I. von Bayern war aber schwach. Er lenkte das Land ohne Rücksicht auf die innere Opposition und konnte die vielen Aufstände und Überfälle von Räuberbanden nicht unterbinden. 1862 mussten er und seine Frau Amalia von Oldenburg nach bürgerkriegsähnlichen Unruhen und der Niederlage Griechenlands im Krimkrieg abtreten.

Obwohl Charles angesichts der harten Realität nicht mehr aus philhellenistischer Motivation wirtschaftete, hielt er durch. Er festigte sein kleines landwirtschaftliches Imperium. Korn, Oliven, Baumwolle, Wein, aber auch der von ihm angestossene Magnesitabbau verschafften ihm ein gutes Einkommen. Emma gebar zwei Söhne. Jeden Sommer verliess die Familie Griechenland und residierte während der heissen Monate in Hofwil. Die Fahrten mit dem Schiff dauerten mehrere Tage.

Die Uneinigkeiten unter den Kindern Emanuel von Fellenbergs darüber, wie es mit dem Erbe des Vaters nach dessen Tod weitergehen sollte, und Charles’ Verantwortungsgefühl bewogen die Familie Müller­von Fellenberg, 1866 definitiv nach Hofwil zurückzukehren. Der Sohn des Mitbesitzers, Francis Noel, übernahm Achmetaga. Das Gut besteht noch heute.

Lüscher erzählt eine zum Teil fast unglaubliche Familiengeschichte aus einer spannungsgeladenen Zeit. Griechenland war politisch unruhig, und von den revolu­tionären Bestrebungen und räuberischen Gewalttaten blieb auch Euböa nicht verschont. Die Schweiz erlebte mit dem Sonderbundskrieg und der Gründung des mo dernen Bundesstaates 1848 einen einschneidenden politischen Umbruch. Charles und Emma waren dank eines intensiven Briefaustauschs mit Familie und Freunden stets über die Vorgänge in der Schweiz informiert. Charles ärgerte sich über den Vormarsch der radikal­liberalen Kräfte in den Kantonen und auf Bundesebene. Auch auf Euböa waren Charles und Emma in erster Linie mit anderen patrizischen oder adligen ausländischen Grossgrundbesitzern bekannt.

Die Geschichte ist fesselnd. Unterbrochen wird sie von theoretischen Ausführungen zu verschiedenen Thematiken, die im Roman zur Sprache kommen. Lüscher erklärt den Philhellenismus, erläutert die verschiedenen Etappen der Geschichte Griechenlands zwischen 1820 und 1870, erörtert den Machtkampf zwischen König Otto I. von Bayern und der Opposition, berichtet aber auch über die Entwicklungen in Hofwil und die Familie von Fellenberg. Lüscher zeichnet dabei das Bild eines zerrissenen und von den europäischen Grossmächten abhängigen Staates und deckt ungeahnte personelle Beziehungen zwischen der Bildungsanstalt Hofwil und Griechenland auf. Diese historischen Zwischenteile sind lehrreich und flüssig geschrieben.

In den Erzählteilen hingegen fällt der Roman etwas ab: Zum einen geht Lüscher mit den historischen Quellen zu locker um. Sie gibt mittels einer typografischen Hervorhebung vor, historische Briefauszüge als Grundlage zu verwenden. Sie hat diese aber gekürzt, neu zusammengesetzt, umformuliert und ausgebaut. Nur einzelne Ausschnitte entsprechen den ursprünglichen Texten. Zwar deklariert Lüscher dieses Vorgehen, dennoch wirkt es störend. Es wird zu wenig klar, welche Elemente der Erzählung historisch belegt sind und welche der Fiktion der Autorin entspringen. Weil der Leser, die Leserin bezüglich der Echtheit der Quellen stellenweise getäuscht wird, scheint mir dieser Eingriff – selbst in einem «Dokuroman» – unsorgfältig. Zum anderen sind die Charaktere der Personen oft anachronistisch. Insbesondere die Paarbeziehung zwischen Charles und Emma ist für die Rollenverhältnisse des 19. Jahrhunderts zu modern. Dies schlägt sich auch in den Dialogen zwischen den beiden Personen nieder. Nicht gänzlich überzeugend ist zudem der literarische Stil, der in den Erzählteilen zum Teil klischierte Formulierungen enthält. Trotzdem liest der Historiker, die Historikerin das Buch nicht zuletzt dank der Thematik mit Interesse.

Zitierweise:
Brigit Stalder: Rezension zu: Lüscher, Geneviève: Achmetaga. Ein Patrizierleben zwischen Griechenland und Bern. Bern: Stämpfli 2018. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 3, 2018, S. 64-65.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 3, 2018, S. 64-65.

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